Der Vorabend

Mia Novak - Servicekraft im Frost & Flamme

Der Duft des „Frost und Flamme“ blieb auch nach Feierabend in der Kleidung hängen. Butter, Knoblauch, Rotwein, dazu eine Spur kalten Rauchs aus der Küche. Mia Novak zog die schwarze Schürze über den Kopf und schüttelte die Arme aus, als könnte sie damit die Müdigkeit abschütteln.

 

Der Gastraum war fast leer, nur zwei Tische hielten sich hartnäckig an ihren letzten Rotwein. Kerzen flackerten in langen Gläsern, spiegelten sich im dunklen Holz. Überall glänzte etwas: Besteck, Gläser, Kugeln im Tannengrün. Es sah nach Hochglanzmagazin aus, fühlte sich aber an wie ein Bühnenbild, das gleich zusammengeklappt wurde.

 

Mia sammelte Weingläser ein, kontrollierte automatisch die Etiketten der Flaschen, die offen blieben. Sie dachte an den Wochenplan, den der Chef heute ausgehängt hatte: Samstag, Charity-Dinner, alle im Haus. Doppelschicht. Kein freier Abend, kein Weihnachtsmarkt, kein spontaner Glühwein mit Freunden.

 

Ihre Mutter hatte am Telefon gesagt, es sei doch schön, „bei den Reichen“ zu arbeiten. „Da fällt bestimmt mal was für dich ab.“ Mia hatte nur gelacht und nicht erwähnt, dass Trinkgeld allein keine Miete zahlte.

 

Sie wischte einen unsichtbaren Fleck vom letzten freien Tisch und warf einen Blick zur Bar. Dort, wo die kleine Musikanlage stand. Noch war es still. Noch lief keiner dieser Lieder, die ihr jedes Jahr im Advent das Hirn weichkochten.

 

Dass ein einziges davon bald alles verändern würde, ahnte sie nicht.

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