Der erste Tag danach

Was bisher geschah:

Mia Novak arbeitet im Restaurant „Frost & Flamme“ und bemerkt den anhaltenden Duft von Butter, Knoblauch und Rotwein auf ihrer Kleidung nach Feierabend. Der Gastraum ist fast leer, und während sie die Tische abräumt, denkt sie an den vollen Wochenplan, der keinen freien Abend lässt. Ihre Mutter glaubt, dass die Arbeit bei den Reichen Vorteile bringt, doch Mia weiß, dass Trinkgeld allein nicht ausreicht. Während eines Charity-Dinners beobachtet Mia die Gäste, darunter der Bürgermeister und Jonas, und bemerkt die angespannte Atmosphäre, als ein kitschiger Song gespielt wird. Später verschwinden zwei Männer hinter der Bühne, und Mia hört den verhassten Refrain kurz vor einem lauten Schrei wieder.

Der Morgen roch nicht mehr nach Fest, sondern nach kaltem Fett und Desinfektionsmittel. Die Polizei hatte den Gastraum wie eine fremde Welt markiert. Gelbes Band an den Zugängen, nummerierte Schilder auf dem Boden, Plastiküberzüge an Schuhen, die sonst nur Gästen gehörten.

 

Mia stand an der Tür zur Küche und klammerte sich an ein Tablett, als sei es ein Schild. Man hatte sie gebeten zu warten, bis sie „drankam“. Als wäre das hier eine Warteschlange vor einer Attraktion und nicht der Nachhall einer Nacht, die falsch abgebogen war.

 

Die Stelle, an der er gelegen hatte, war gereinigt, aber sie sah sie trotzdem. Den Umriss, das Blut, den starren Blick, den sie im Augenwinkel eingefangen hatte, bevor man sie weggeschickt hatte. Der Moment, in dem jemand geschrien hatte, war in ihr steckengeblieben wie ein Splitter.

 

In ihrem Kopf spielte die Nacht als Sprungaufnahme: Tabletts, Lachen, der aufdringliche Song, Jonas’ Gesicht, der enge Gang, ein dumpfer Laut, dann Stimmen, die plötzlich höher waren, schärfer.

 

Eine Beamtin holte sie ab. „Nur ein paar Fragen“, sagte sie. „Alles Routine.“

 

Mia setzte sich in den kühlen Raum und merkte, wie ihre Hände feucht wurden. Sie wusste, was sie gesehen hatte. Sie wusste auch, was sie lieber vergessen würde. Dazwischen klaffte eine Lücke, in die man bequem eine Lüge legen konnte.

 

Noch entschied sie sich dafür, schweigen zu lassen, was ihr Herz in einer anderen Sprache schrie.

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